Boris Becker artist photographer


Das spektakuläre Unspektakuläre im Werk von Boris Becker / ein Vorwort von Gérard A. Goodrow

Gérard A. Goodrow

L’infra-ordinaire
Das spektakulär Unspektakuläre im Werk von Boris Becker

 

Am Donnerstag, den 27. Februar 1969 gegen 16 Uhr spazierte der französische Schriftsteller und Filmemacher Georges Perec (1936–1982) die rue Vilin im 20. Arrondissement, einem Arbeiterviertel in Paris, entlang und machte sich Notizen über die Dinge, die er dort beobachtete. Er beschrieb die Fassaden jedes einzelnen der zahlreichen Häuser, die die Straße säumen, und notierte die Schilder, welche die Art der Geschäfte, die dort untergebracht waren, ankündigen: Nr. 7 ein Beerdigungsinstitut, Nr. 9 „Restaurant-Bar Marcel“, Nr. 45 das ehemalige „Hotel du Mont-Blanc“, jetzt ein einfaches Appartement-Haus. Perec ließ kein Haus unbemerkt, kein Schild ungelesen. Mehr als ein Jahr später, am 25. Juni 1970 – zufälligerweise ebenfalls ein Donnerstag und ebenfalls gegen 16 Uhr – vollzog er seinen Weg noch einmal und notierte alle Änderungen, die seit seinem letzten  Besuch in dieser Straße stattgefunden hatten. Einige der Geschäfte, die er auf seinem ersten Spaziergang entdeckt hatte, waren inzwischen geschlossen worden und hinterließen eine Lücke; andere haben einfach den Besitzer gewechselt. Eine Reihe von Häusern war zugemauert worden, andere abgerissen. Bei vier weiteren Gelegenheiten über die nächsten fünf Jahre kehrte Perec in die rue Vilin zurück und machte Notizen über die Änderungen des physikalischen Charakters der Straße.

Alles schön und gut. Aber warum sollte jemand sich die Mühe machen, so etwas Banales zu unternehmen? Worum geht es dabei? An der rue Vilin ist nichts Spektakuläres oder Spezielles – außer vielleicht der Tatsache, dass Perec hier geboren wurde und aufwuchs. In der Haus-Nr. 24 hatten seine Eltern ein Friseurgeschäft – bis der Zweiten Weltkrieg und die Okkupation Frankreichs durch die Nationalsozialisten Perec zu Vollwaise machten. Der Spaziergang durch seine alte Straße war also auf der einen Seite eine Reise in die Vergangenheit – seine eigene, höchst persönliche Vergangenheit – vielleicht in der Hoffnung, diese zu überwinden, und auf der anderen Seite eine intensive, philosophische Auseinandersetzung mit dem Familiären, dem Alltäglichen, dem Unspektakulären, um den eigentlichen Sinn dieser zu erforschen, d.h. zu verstehen.

Wie Georges Perec ist auch Boris Becker an dem interessiert, was der französische Schriftsteller „L’infra-ordinaire“ nannte. Mit dem Begriff beschrieb Perec den Schritt weg vom Spektakulären – welches nach einer gewissen Zeit ohnehin nur langweilig wird – in dem Bestreben, die Schönheit und Faszination der alltäglichen Dinge und Erfahrungen wiederzuentdecken. Was Becker interessiert, ist, um es in den Worten Perecs zu beschreiben, nicht so sehr das Exotische, d.h. das Andere, sondern vielmehr das „Endotische“, das Innewohnende. Es handelt sich also um eine Anthropologie der eigenen Kultur und somit des eigenen Selbst.

Eine Endo-Ethnologie des Alltags

Bei der Analyse und Dekonstruktion der feinen Einzelheiten seiner eigenen Kultur kommt der Endo-Ethnograph zu dem seltsamen Paradox, dass, während alles innerhalb einer gegebenen Gruppe oder Klassifizierung extrem ähnlich erscheint, es in Wirklichkeit im großen Maße unterschiedlich ist. Obwohl die rue Vilin, oberflächlich gesehen, für jede Straße in Paris (bzw. in jeder anderen Stadt überall in der Welt) stehen könnte, hebt das allerkleinste Detail, mit dem Perec diese Straße beschreibt, diese von allen anderen ab. Ihre ureigene Persönlichkeit, ihre Individualität, wird ins Licht gerückt. Boris Beckers konzeptuelle Nähe zu Georges Perecs Begriff des L’infra-ordinaire zeigt sich vor allem in seinen frühen Serien der Hochbunker (1985–1989) und der Wohnhäuser (1990–1993). Mit diesen Werkgruppen dokumentierte der junge Boris Becker beide Architekturtypen mit einem nahezu enzyklopädischen Ansatz, der eindeutig von den „Typografien“ seines Lehrers Bernd Becher und seiner Frau Hilla beeinflusst wurde. [Abb. (Bremen Auf der Muggenburg, 1986) und Abb. (Wohnhaus, 1991)] In Bezug auf die Wohnhäuser erklärte Becker in einem Interview: „Bei den größeren Wohneinheiten stand für mich die Frage einer anonymisierten  Architektur im Vordergrund, deren Stringenz allerdings immer wieder durch individuelle Versuche der Einwohner aufgebrochen wird, den eigenen  Wohn- und Lebensraum zu gestalten, um damit der Anonymität des Gebäudes zu begegnen.“ Aus einem Haus wird ein Zuhause, aus Anonymität wird Individualität, aus einer Typologie wird eine Anthropologie. Also, auch wenn der Mensch selbst in den Arbeiten Boris Beckers fast nie präsent ist, spielt er dennoch eine durchaus wichtige Rolle.

Becker spielt mit solchen Gedanken, ohne aber sich oder seine Bilder durch eine Spezifizierung des Ortes festlegen zu wollen. Beispielhaft hierfür sind zwei Werke aus den frühen 1990er Jahren: Ladenlokal (1991) [Abb.] und Bar (1992). [Abb.] In beiden Fälle sind weder Hausnummer noch Geschäftsnamen sichtbar. Es sind lediglich Fassaden eines Ladenlokal sowie einer Bar zu sehen – nicht mehr, nicht weniger. Obwohl die Fotos in den 1990ern geschossen wurden, stammen die abgelichteten Architekturen aus einer anderen Dekade. Der Zahn der Zeit hat seine Spuren hinterlassen. Warum schießt Becker solche Fotos, deren Motive über alle Maße hinaus banal sind? Was hat man davon? Erst recht, wenn man gar nicht weiß, wo die Läden überhaupt zu lokalisieren sind? Gerade das Bild Ladenlokal gibt (stillschweigend) Hinweise auf die Sichtweise und somit auch auf die künstlerische Aussage Beckers. Der Laden ist geschlossen – ob wegen Renovierungsarbeiten oder Geschäftsaufgabe bleibt unklar. Auf jeden Fall ist dem Laden seiner eigentlichen Funktion beraubt worden. Gleichwohl ist die Funktion der Architektur sofort erkennbar, wenn auch nicht im kleinsten Detail. Dass es sich aber hierbei um ein Ladenlokal handelt, ist auch ohne den Titel der Arbeit jedem Betrachter sofort einleuchtend. Die riesigen buntverklebten Fensterfronten rechts und links vom Eingang dienen nun als Projektionsflächen für die eigene Vorstellungskraft des Betrachters. Ob Kiosk, Imbiss, Schuster oder Blumenladen – jeder kennt so eine Storefront auf einer ruhigen Ecke in einem ganz normalen Wohnviertel  irgendwo außerhalb der Innenstadt.

2013 fotografierte Boris Becker die lange Fassade eines heruntergekommenen Bauernhauses im oberbergischen Wermelskirchen. Der Name der Straße ist bekannt: Kreckersweg. Im ersten Moment denkt man, es handele sich hier um eine digitalisierte Verlängerung einer Fassade, doch in diesem Fall – sowie in den meisten Fällen bei Becker – lügt die Kamera nicht. Das, was man sieht, existiert tatsächlich. Auffallend ist der Farbverlauf von gräulich bis bräunlich, von intensiv bis blass. Man liest das Bild also wie einen Text, von links nach rechts, ohne aber irgendeine bestimmte Geschichte daraus lesen zu können. Auf der rechten Seite sackt das Haus dann plötzlich ab. Was auch immer die Geschichte ist,  nimmt sie offenbar kein gutes Ende. Ähnliches spielt sich in der Istanbuler Straßenansicht Geschäftshaus (2014) ab. Ein Straßenzug – vielleicht ein ganzes Stadtviertel – steht vor der Ruine, mit kaum Hoffnung auf einen Neubeginn. Im Gegensatz hierzu steht bei einer unbetitelten Arbeit aus dem Jahr 2013 die statisch gesicherte Innenseite einer scheinbar historischen Fassade eines sonst komplett abgerissenen mehrstöckigen Bürogebäudes für eine gewisse Zukunftshoffnung. Auch wenn es nur die Fassade ist, so wird mindestens einen Teil der Architektur weiterleben, wiederbelebt in einem ganz neuen Kontext. Der Titel – bzw. das Fehlen eines Titels – verrät allerdings nichts, weder über die Vergangenheit, noch über die Gegenwart oder Zukunft des Hauses. Verheimlicht wird, dass es sich hier um die ehemalige Bundebahndirektion am Kölner Rheinufer unweit des Domes und des Hauptbahnhofes handelt. Doch diese Information wäre eh überflüssig, denn es geht nicht um das Haus und seine ursprüngliche Funktion als solche, sondern vielmehr um eine Halbruine in einer Großstadt, die sich ständig verändert und weiterentwickelt. Gerade wegen des Mangels an inhaltlichen Informationen fordert das Bild den Betrachter heraus, durch seine Vorstellungskraft eine eigene Geschichte darauf zu projizieren.

Noch verwirrender, da vermeintlich umso persönlicher und spezifischer, ist das Bild Ketan (1912). Durch den Titel denkt man irgendwie an Indien, wo Ketan ein nicht unüblicher männlicher Vorname ist. Die Assoziation zu einem fernen Land mit einer andern Wohnkultur wird durch das Fremdartige der scheinbar behelfsmäßigen Unterkunft verstärkt. Manche Kölner wissen vielleicht, dass es sich hierbei um ein provisorisches, selbstgebasteltes Domizil des Outsider-Künstlers „KeTaN“ (Rolf Tepel) auf einem Brachgelände unweit der Kölner Uni und des Justizzentrums handelt. 2012 brannte die Holzhütte aus heute noch unbekannten Gründen komplett nieder. In der lokalen Presse war zu lesen, dass der Künstler damit nicht nur sein Obdach, sonder auch sein gesamtes Archiv verloren hatte. Doch der Lebenskünstler ließ sich nicht entmutigen und fing wieder vom vorne an. Im Sommer 2015 müsste Tepel letztendlich das Grundstück endgültig verlassen, denn genau dort wird das neue städtische Archiv gebaut. Am 3. März 2009 ist der Gebäudekomplex des Historischen Archivs der Stadt Köln in der Severinstraße wegen gravierender Mängel an der Konstruktion eines neuen U-Bahn-Tunnels komplett eingestürzt. Neben dem Stadtarchiv sind auch mehrere angrenzende Privat- und Bürohäuser in die Tiefe gerissen. Durch die Katastrophe, bei der zwei junge und völlig unbeteiligte Männer gestorben sind, haben knapp 40 weitere Menschen ihre Wohnungen verloren. KeTaN ist also lediglich ein weiteres Opfer in einer tragischen Geschichte, aus der man anhand Beckers Fotografie nie hätte schlau werden können. Dennoch ahnt man irgendwie, dass diese Geschichte kaum ein „Happy End“ haben kann. Das Chaos ist vorprogrammiert. Es stellt sich nun die Frage, ob die Bilder Archiv und Regale (beide 2014) (die Arbeit Regale wird doch nicht im Katalog gedruckt) mit dem Historischen Archiv der Stadt Köln in irgendeinem Zusammenhang stehen und eventuell einen Versuch seitens des Künstlers darstellen, endlich wieder Ordnung nach dem „Total Desaster“ zu schaffen. Total Desaster wird ja nicht mehr als Ausstellungstitel genutzt, da er mir zu negativ belastet ist

Obwohl sie (bisher) keine Menschenleben gekostet hat, ist die Geschichte um die vom Verwaltungsmissgeschick verfolgte Sanierung der 1954 vom berühmten Architekten Wilhelm Riphahn fertiggestellten Kölner Oper ähnlich verflixt. Leider ist doch jemand auf der Baustelle gestorben, als ich später dort fotografiert habe. Somit ist das Prestigeprojekt um den Erhalt eines wichtigen Baudenkmals der westdeutschen Nachkriegszeit zur (weiteren) peinlichen Schandfleck der Kölner Kulturpolitik geworden. Hier bekommt der Titel der aktuellen Ausstellung – „Staged Confusion“ (inszeniertes Durcheinander) – eine neue, fast sarkastisch-ironische Bedeutungsebene.  Beckers Foto der ausgekernten Hinterbühne mit Blick auf die wie versetzten Balkonen abgehängten Logen des Zuschauerraums gibt kaum einen Hinweis auf die großartige Architektur des Hauses, sondern zeigt lediglich ein einfache, nahezu anonyme Baustelle in einer strengen, fast konstruktivistischen Komposition von ineinander verschachtelten Rechtecken – in seltsamer Weise erinnernd an – aber dennoch Welten entfernt von – der sauberen, einträchtigen und sogar spirituellen Ordnung von Kasimir Malewitschs berühmten Schwarzen Quadrat auf weißem Grund (1915) bzw. Josef Albers bahnbrechender Gemäldeserie Homage to the Square (1950–1976).

um der Kunst willen

Konkrete, von der Geometrie bedingte Malerei scheint ebenfalls im Kopf des Fotografen gewesen sein, als er Details von verschiedenen Fassaden namenloser Häuser ablichtete. Eine unbetitelte De Stijl-ähnliche Komposition aus 2011 besteht aus einer weiß gekachelte Fassade mit gerahmten „Inlays“ aus pastellfarbenem Beton; rechts am Rande läuft ein vertikales Band mit Farbfeldern in Dunkelgrün, Gelb, Grau, Hellblau und Grün. Schon vor zehn Jahren griff Becker auf banale Alltagsgegenstände zurück, um auf bestimmte Charakterzügen der abstrakten Malerei der 1950er Jahre anzuspielen. Sein Strickmuster (2006) erinnert an die gestreifte Farbfeldmalerei eines Gene Davis oder eines frühen Frank Stellas, während die Gestohlenen Gummistiefel (2005) und die bunten Post-it®-Haftstreifen (Grieger, 2012) eher die „All-Over“-Kompositionen eines Jackson Pollocks in Erinnerung rufen.

In beiden letzteren Fällen spielen auch interessanten Vorgeschichten zwar nicht die Hauptrolle – man muss sie gar nicht kennen, um das Wesentliche beider Bilder zu verstehen. Sie begründen aber eine zusätzliche Bedeutungsebene, die wiederum den Bogen zurück zum Georges Perec schlägt. Denn auch hier geht es um etwas „Infra-Ordinäres“. Über den Hintergrund der gestohlenen Gummistiefel erinnert sich Becker: „Grundlage dieses Motivs bildet die Geschichte eines offenbar kranken Mannes, der über Jahre hinweg Kindergummistiefel gestohlen oder, besser gesagt, gesammelt hatte, die vor Haustüren zum Trocknen abgestellt waren.“ Inspiriert von der skurrilen Geschichte konzipierte Becker ein „All-Over“-Motiv mit den poppig-bunten Stiefeln. Ähnlich ging es ihm bei der Konzeption des Grieger-Motivs. Beim Besuch des Fotofachlabors Grieger in Düsseldorf bemerkte Becker eine Wand im Raum der Postproduktion, die mit zahllosen  bunten Haftstreifen nahezu vollständig bedeckt war. Auf jedem einzelnen Haftstreifen steht der Name eines Fotografen bzw. einer Fotografin – u.a. Andreas Gursky, Candida Höfer, Thomas Struth, Thomas Ruff oder auch Boris Becker –, dessen bzw. deren Fotografie dort retuschiert wurde. Bei der Ankunft in der Postproduktion werden nämlich alle fertig belichtete Fotorollen mit dem Namen des jeweiligen Kunden versehen, so dass man sie später nach der Retusche wieder einordnen kann. Von weitem gesehen, nimmt der Betrachter ein Gewirr an pastelligen Farben, die die gesamte Bildfläche einnehmen, wahr – eine Art digitale Neuinterpretation des berühmten Seerosen-Motivs des Impressionisten Claude Monet. Beim näheren Betrachten werden dann die einzelnen Namen lesbar und man versucht, eine versteckte Ordnung unter den bunten Zettelchen bzw. kodierte Beziehungen zwischen den Fotografen zu entziffern. Dass so ein banaler, fast automatisierter Prozess zu einem derart spannenden Bild führen kann, liegt einzig und allein am offenen, neugierigen Blick Boris Beckers. Dennoch leben die Bilder erst durch die Vorstellungskraft der Betrachter. „Für den Betrachter des Bildes kann die Hintergrundgeschichte unter Umständen völlig ohne Bedeutung sein“, erklärt Becker und führt fort: „er nimmt nur die visuelle Reize wahr und empfindet ein leichtes Zweifeln in Bezug auf den Titel der Arbeit. Viel wichtiger ist jedoch die Möglichkeit für den Betrachter, dieses Bild völlig frei in einen eigenen imaginären Kontext zu setzen.“ So eine Möglichkeit entsteht am ehesten im Bereich der Abstraktion, denn das Darstellende bringt stets einen Bezug zur Realität und somit auch zu einer wahren Begebenheit mit sich. Im Gegensatz dazu ist die Abstraktion bzw. das Abstrahierte eher frei und lässt viel Raum für eigene Interpretationen und Assoziationen. 

Ebenfalls abstrakt wirken die Landschaftsbilder, die Becker Mitte der 1990er Jahre schuf. Indem er auf einen Orientierung gebenden Horizont verzichtet, nehmen die Felder und Wiesen die komplette Bildfläche ein und verlieren dadurch häufig ihren Bezug zur Natur bzw. zur Wirklichkeit. Schnee (1996) erinnert an die weißen malerisch-monochromen Bilder eines Robert Rymans, während Aufnahmen von frisch bestellten Feldern lassen in bestimmten Fälle an die fein gestreiften, von den endlosen Weiten der Wüste New Mexicos beeinflussten Abstraktionen einer Agnes Martin denken [Abb. (ohne Titel 2036, 2003)]. 2006 lichtete Becker die silberne, reliefartige Fassade eines Einkaufszentrums in der Dresdner Innenstadt ab. Man denkt unweigerlich an die Aluminiumreliefs eines Heinz Macks aus der ZERO-Zeit. Vier bläuliche Fenster greifen die Formgebung der Fassadenelemente auf und setzten gezielte Farbakzente. Gleichzeitig erinnert die Form der Fenster an Urinale – erst recht durch die satte, fast flüssige Färbung der Glasscheiben in WC-Reiniger-Blau. Marcel Duchamp lässt grüßen.

Wie Readymades erscheinen auch auf dem ersten Blick die Objekte aus der umfangreichen Serie der Fakes (1999–2002), mit der Becker eine gänzliche andere Realität kommentiert, nämlich die des raffinierten, erfindungsreichen Drogenschmugglers. Genau weil sie so gewöhnlich und unscheinbar sind, werden banale Alltagsgegenstände wie Damenschuhe, Dosensuppen, Polstermöbel, Videokameras oder Festplatten als Behälter für oder Träger von Kokain und anderer Kontrabande missbraucht. [Abb. (Piranha Kokainpaste Kolumbien, 2001)] Was als harmlose Auftragsarbeit für das Zollkriminalamt (ZKA)  in Köln begann, baute Becker alsbald zu einer umfassenden Werkgruppe aus, die die skurrilsten und gewagtesten Krimigeschichten vermuten lässt. Die Titel der Arbeiten liefern maximal drei Stichpunkte, die dem sonst ahnungslosen Betrachter eine kleine Sehhilfe bieten: das „Tarn“-Objekt (z.B. Sauerstoffflasche, Halskette, Aktentasche oder Bowling Kugel), die geschmuggelte Ware (Kokain, Haschisch, Zigaretten oder verbotener Gegenstand) und der Ursprungsort (Panama, Kolumbien, Niederlande oder Irak). Was für eine Geschichte der Betrachter daraus strickt und ob diese mit der eigentlichen, aktenkundige Geschichte übereinstimmt, ist eigentlich egal. Beckers Bilder dienen also eher als Sprungbretter für die freien Assoziationen des Betrachters, der nachher – mindestens für eine Zeit lang und gerade in Bezug auf die Fakes – eher skeptisch gegenüber anderen gewöhnlichen Gegenständen aus dem eigenen Alltag steht. Annette Reich beschreibt diese veränderte Wahrnehmung des Betrachters wie folgt: „Der Betrachter wird dazu angehalten, seine Wahrnehmung zu sensibilisieren. Die visuell erfahrbare Wirklichkeit dient dem Fotografen gewissermaßen als Ausgangsmaterial, um hinter die Dinge zu blicken, um ihr Wesen zu erfassen. [...] Die vermeintliche Eindeutigkeit wird dadurch relativiert, ja sogar absichtlich verschleiert. Es kommt zu einer Verfremdung der Erscheinung. Objektivität und Subjektivität gehen eine Verbindung ein.“ Auch hier ist der Bezug zum Konzept des „L’infra-ordinaire“ nicht zu übersehen.

Für Boris Becker ist also die Konfrontation mit dem Alltäglichen der Kernpunkt seines künstlerischen Schaffens. Banalität wird in Poesie umgewandelt. Die Spannung in seinen Bildern entsteht, weil Kunst als autonom und jenseits des Alltäglichen gesehen wird. Durch die Befürwortung des Alltäglichen, durch die Umarmung des Unspektakulären, definiert der Künstler auch unseren Kunstbegriff neu und liefert uns Einsichten in Dinge, die wir schon zu verstehen glaubten. Durch die Umwandlung des Alltäglichen, durch die Erforschung des Unspektakulären, öffnet er uns einen neuen Weg, nicht nur die Welt um uns herum, sondern auch uns selbst zu erkennen.

Cf. Georges Perec, L’infra ordinaire, Paris: Seuil, 1989 / Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?, übersetzt aus dem Französischen von Eugen Melmlé, Bremen: Manholt Verlag, 1991.

Zit. in „Ein Gespräch zwischen Boris Becker, Gabriele Conrath-Scholl und Barbara Hofmann-Johnson“, in: Boris Becker. Photographien 1984–2009, Ausst.-Kat. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln 2009, S. 22–55, hier S. 30.

Ebd. S. 42.

Ebd.

Annette Reich, “Kongruenz – Divergenz”, in: Claims and Constructions. Fotografien von Boris Becker, Ausst.-Kat. Pfalzgalerie Kaiserlautern und Städtische Galerie Wolfsburg, Heidelberg: Kehrer Verlag 2001, S. 11–20, hier S. 12.


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