Boris Becker artist photographer


"Fehlende Erinnerung" von Susanne Wedewer-Pampus, Leverkusen

„Fehlende Erinnerung“ - eine Spurensuche

Bekannt vor allem für seine sehr sachlichen Aufnahmen von Details aus Architekturen und Landschaften, sah sich Boris Becker als Meisterschüler von Bernd Becher zunächst der grundsätzlich dokumentarischen Auffassung von Fotografie verpflichtet. Seine zum Teil großformatigen Tableaus beeindrucken durch ihren skulpturalen, strukturellen und farblich abstrahierenden Eigenwert. Doch „auch wenn alles eher sachlich fotografiert ist, so sind die Standpunkte und Motive so subjektiv wie intuitiv. Subjektivität heißt für mich“, so Boris Becker, „einen Standort beziehen, wobei ich keinen Kamerastandpunkt meine, sondern einen Standpunkt, den ich bei meinem Tun einnehme.“

Wo also verläuft die Linie zwischen dem persönlich subjektiven einer Fotografie und ihrem dokumentarisch-künstlerischen Wert?
Dieser Frage geht der Fotograf und Filmemacher in seinem Ausstellungsprojekt "Fehlende Erinnerung" im Kunstverein Leverkusen nach. Und so steht hier konsequenterweise denn auch nicht die einzelne Fotografie, nicht primär sein fotografisches Werk zur Diskussion, zumal ein Teil der hier gezeigten Aufnahmen Reproduktionen alter Familienfotos sind. Vielmehr zeigt sich in diesem hier erstmals präsentierten Projekt seine sehr persönliche Suche nach den ersten Eindrücken und Prägungen seiner künstlerischen Sichtweise - und zugleich auch seine Über-Prüfung der Möglichkeiten des Medium Fotografie, Erinnerungen zu bewahren, zu ergänzen, Lücken zu schließen.
Boris Becker scheint in diesem seinem, vorsichtig formuliert, Experiment auf den ersten Blick gänzlich neue Wege zu beschreiten, sich abzuwenden von seiner scheinbar objektiven Fotografie, der für seine Arbeit so bezeichnenden Abwesenheit von Menschen, der Abgrenzung des einzelnen Motivs von seinem realen Umfeld. So mag der hier vorgestellte Komplex denn auch recht irritierend erscheinen. Schaut man sich allerdings eigene frühe Texte des Künstlers an, sowie Gesprächsnotizen zwischen dem Fotografen und verschiedenen Kritikern, so stößt man durchaus auf die ein oder andere Bemerkung, durch die sich diese mit „Fehlende Erinnerung“ betitelte Suche durchaus im Kontext des Gesamtwerkes verankern lässt. Zumal sein Werk, seine Themenkreise von Anfang an sowohl das sachlich-abstrakte als auch das narrative umfassen. Werfen wir also einen Blick zurück - bereits in der Reihe der „Berliner Arbeiten“ geht Boris Becker der Frage nach den eigenen Anfängen nach, den Anfängen seiner künstlerischen Sichtweise anhand des Sujets der Hochbunker, das er bereits als junger Künstler in der Zeit von 1978-1987 immer wieder aufgenommen hat. „Wo kommt alles her? Wo komme ich als Künstler her, wo habe ich was gesehen?“ In dieser Berliner Reihe sind die Parallelen zwischen dem Gestern und Heute seiner künstlerischen Sichtweise klar erkennbar, sind die späteren Charakteristika seiner künstlerischen Sprache bereits angelegt, kunsthistorisch nachvollziehbar.
In der Beschäftigung mit den im Kunstverein versammelten alten Aufnahmen aus dem Nachlass seiner Mutter führt Becker diese Fragen beziehungsweise diese Spurensuche nach seinen künstlerischen Wurzeln noch einen Schritt weiter. Er entzieht dieses Ausstellungsprojekt allerdings sehr deutlich einer kunstimmanenten Betrachtungsweise, vielmehr stellt er ganz bewusst seine Erinnerungen auf den Prüfstand - für sich und für den Betrachter. Die Aufnahmen, ursprünglich 6x6 cm Rollfilmaufnahmen, hat der Fotograf für dieses Projekt reproduziert, vergrößert und nur stellenweise ausgebessert. Es sind Motive aus dem privaten Umfeld seiner Eltern und zugleich Aufnahmen der Kölner Künstlerszene der 50er und 60er Jahre - Dokumentationen? Was macht eine private Aufnahme zu einem zeitgeschichtlich relevanten Dokument? Die erkennbaren, in der Öffentlichkeit bekannten Personen? Der historische Kontext wie bei den ebenfalls hier im Kunstverein gezeigten Aufnahmen aus dem Guerillakrieg in der Westsahara? Oftmals erhalten Fotos erst im Nachhinein Bedeutung, beziehungsweise eine neue, veränderte Bedeutung. Auch scheinbar sachliche, objektive Aufnahmen eines Details von der Baustelle der Kölner Oper beispielsweise, wie wir sie aus dem Werk Beckers kennen, oder auch eines Blicks aus dem Fenster eines Hotels in Aleppo, aufgenommen noch vor der völligen Zerstörung. Zeitzeugen, aus dem Moment gelöst.
Die in dieser Ausstellung im Vordergrund stehenden Fotografien aus dem Nachlass seiner Mutter hingegen sind für Boris Becker vor allem visuelle Verankerungen seiner frühen Erinnerungen, Teile seines „Bildfundus“. Eines „Bildfundus“, der ständig individuellen Veränderungen unterworfen ist und ein künstlerisches Werk im Ansatz als eine Art latente Imagination bereit hält,“ wie es in seinem Text „Die Bilder sind schon da“ von 2006 heißt.

In dem Experiment „Fehlende Erinnerung“ legt Becker den Fokus auf den möglichen Ursprung dieses Fundus an inneren Bildern, fächert ihn förmlich vor dem Betrachter auf als einen, der sich zusammensetzt aus alten Familienfotos und der ebenfalls hier vorgestellten Reihe der „Nachtsichten“. Wie durch einen Zoom gesehen wandert der fotografische Blick Beckers zunächst von Außen ins beleuchtete Innere der ihn prägenden Ateliers und Interieurs wie in „Nachtsichten“ - zu den, im übertragenden Sinne, noch einmal näher herangeholten Bilder der Familie, ihren und teilweise seinen Erinnerungen.
„Wo“, fragte sich Boris Becker bereits vor zehn Jahren, „finden wir diese bruchstückhaften Bilder unserer Erinnerung heute wieder, wie korrespondieren sie mit unseren aktuellen Erfahrungen, Träumen und Wünschen? … oft sind es die kaum wahrnehmbaren Überschneidungen mit aktuellen Eindrücken, die uns aufmerken lassen, die Parallelen einer visuellen Erfahrung, und diese treffen mit unseren verborgenen Bilder zusammen, finden sich ohne äußerlich erkennbaren Zusammenhang. Versuchen wir doch oft, diese neuen Bilder, diese neuen Eindrücke zu fixieren, indem wir sie fotografieren und filmen, nur: die meisten Bilder halten sich im Kopf, ausschließlich in unserem Bewusstsein fest, in einer Erinnerung…“
Worauf stützt sich unsere Erinnerung, woraus setzt sie sich zusammen - und wie verlässlich ist sie? Fotografien gelten bei dem schrittweisen Zusammensetzen dieses Flickenteppichs nicht selten als verlässliche Garanten, als Beweise erlebter, gelebter Momente, dienen als link zu dem eigenen Bilderspeicher. Manchmal  aber verweisen sie auch auf Lücken - auf eine „Fehlende Erinnerung“.

 

Susanne Wedewer-Pampus
September 2016


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